Thursday, November 24, 2011

Randale für die Revolution (JMD in German)


DIE WELTAutor: Tobias Heimbach|06:33

Randale für die Revolution

Vom Stadion zum Tahrir-Platz: Wie radikale Fußballfans die Umwälzungen in Ägypten beeinflussen
"Die Ultras haben eine wichtigere Rolle gespielt als alle politischen Parteien"
Wenn Fußballfans singen, möchten sie meist ihre Mannschaft unterstützen. Doch die ägyptischen Ultras, die derzeit auf Kairos Straßen grölen, haben weder Tore noch Pokale im Sinn, sondern Politik. Sie gehörten zu den wichtigsten Protestgruppen auf dem Tahrir-Platz und hatten entscheidenden Anteil daran, dass Präsident Hosni Mubarak am 11. Februar zurücktrat. "Die Ultras haben eine wichtigere Rolle gespielt als alle politischen Parteien", sagte Alaa Abdel Fattah, der prominente ägyptische Blogger, dem Fernsehsender Al Dschasira.
Dennoch stehen die Fußballanhänger selten im Fokus der Berichterstattung, viele politische Beobachter konzentrieren sich auf die islamistische Muslim-Bruderschaft. Dabei gibt es Gemeinsamkeiten zwischen Fundamentalisten und Fußballfans. "Vor dem Arabischen Frühling gab es in autokratischen Staaten im Nahen Osten nur zwei Ventile für Frustration und Wut", sagt James Dorsey, ein deutsch-stämmiger Experte für Fußball im Orient, "das eine war die Moschee, das andere war das Fußballfeld."
Inzwischen hat die Macht der Fans Ausmaße erlangt, die manchen fragen lassen, ob sie sich dauerhaft als politische Gruppe etablieren können. Längst schon sind viele Fangruppen stark politisiert, und auch die Geschichte zeigt, dass Politik im ägyptischen Fußball schon immer eine Rolle gespielt hat. Al-Ahly, der beliebteste Verein des Landes, wurde 1907 von Studenten gegründet, die den britischen Kolonialherren kritisch gegenüberstanden. Der Kairoer Lokalrivale Zamalek SC profilierte sich später als Klub der ägyptischen Monarchie. Anhänger beider Vereine beteiligten sich mit großer Leidenschaft an den aktuellen Protesten. Obwohl sie für gewöhnlich verfeindet sind, zogen sie gemeinsam auf die Straße.
Paradoxerweise scheinen sie durch ihre Feindschaft jetzt einen entscheidenden Vorteil zu haben. "In den vergangenen fünf Jahren gab es immer wieder Zusammenstöße zwischen den Fans der Vereine oder mit der Polizei", sagt Dorsey. Dadurch seien sie "im Straßenkampf erfahren und sehr gut organisiert".
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Das war bei den Kämpfen um den Tahrir-Platz zu beobachten. "Es gab zugewiesene Steinewerfer, Spezialisten für das Anzünden von Fahrzeugen und Versorgungscrews, die Projektile lieferten", erklärt der englische Fußballblogger David Lane. Sonderkommandos suchten gezielt nach Tränengaskanistern und warfen sie auf die Polizisten. Auf 20 000 schätzt Dorsey die Zahl der Ultras in Kairo, aber präzise Angaben gibt es nicht. Obwohl sie somit eine relativ kleine Gruppe darstellen, sind sie durch ihre Krawallerfahrung und Organisation eine der wichtigsten Stützen der Proteste.
Als den wohl wichtigsten Beitrag der Ultras bei den Protesten bezeichnet Dorsey das "Brechen der Angstbarriere". Die Fans von Al-Ahly und Zamalek nahmen als erste furchtlos den Kampf mit den Sicherheitskräften auf. Als die Proteste am 25. Januar, dem "Tag des Zorns", ihren Anfang nahmen, organisierten die Anhänger beider Vereine laut Dorsey Märsche in den ärmeren Vierteln Kairos. Auf dem Weg zum Tahrir-Platz durchbrachen sie Absperrungen der Polizei und waren als erste vor Ort.
Nach der erneuten Besetzung am Samstag beschreibt Dorsey die Situation so: "Um sechs standen die Ultras auf dem Tahrir-Platz, und um sieben musste sich die Polizei zurückziehen."
Ihren Einsatz bezahlen die Fans mitunter mit dem Leben. Am Mittwoch veröffentlichten die "Ultras White Knights", Fangruppe von Zamalek, das Foto eines jungen Mannes auf ihrer Facebook-Seite, der offenbar bei den Protesten gestorben war. "Wie bitten Gott um Erbarmen für ihn, der mit seinem Leben bezahlt hat für die Freiheit und die Würde seines Landes", ist dort zu lesen - verbunden mit einem Aufruf für weitere Proteste nach dem Morgengebet am Donnerstag.
Obwohl die Ultras die Proteste mittragen, sind sie im Gegensatz zu anderen politischen Gruppen schwer zu fassen, denn sie rekrutieren sich aus allen sozialen Schichten. "Von den beiden führenden Persönlichkeiten bei den Al-Ahly-Ultras ist einer Journalist und Experte für Neue Medien, der andere arbeitslos", sagt James Dorsey. Auch die Fankultur unterscheidet sich von der in Europa. "Die Ultras gehören in Ägypten zum Mainstream", so Dorsey.
Die Motive für die Teilnahme an Protesten sind ebenfalls nicht eindeutig zu identifizieren. Al-Ahlys Ultras erklärten, "dass sie keine politische Meinung vertreten, die Mitglieder aber gern an politischen Demonstrationen beteiligen können". Der Kern der Al-Ahly-Ultras soll politisch extrem sein. "Sie definieren sich selbst als Anarchisten", so Dorsey.
Die Ultras lassen sich außerdem schwer einordnen, weil sie es bisher vermieden, politische Allianzen zu schließen. Bekannt ist allerdings, dass viele Ultra-Gruppen nach dem Rücktritt Mubaraks den ägyptischen Fußball von Mitgliedern des alten Regimes säubern wollten. Bald übertrugen sie diese Forderung aber auf die gesamte Gesellschaft. Ob sie deswegen als politische Hoffnung taugen? Blogger Alaa Abdel Fattah glaubt daran, scherzhaft sagt er: "Vielleicht sollten die Ultras das Land regieren."
Allerdings ist Fußball auch ein Grund für die Proteste. Seit September gibt es eine verschärfte Fehde zwischen den Ultras von Al-Ahly und den Sicherheitskräften. "Bei einem Spiel griff die Polizei hart gegen die Fans durch und nahm viele von ihnen fest", sagt Dr. Florian Kohstall, Leiter des Kairoer Büros der Freien Universität Berlin. "Die Ultras protestieren auch für deren Freilassung."
Weder Kohstall noch Dorsey glauben, dass sich die Ultras als eine einheitliche Strömung oder gar als Partei konstituieren werden. "Daran haben sie gar kein Interesse", sagt Dorsey. Eher würden sie sich der Jugendbewegung anschließen.

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