Bei den Umstürzen in Nordafrika spielte Fußball eine wichtige Rolle. Forscher J. Dorsey spricht im Interview über Ultras auf dem Tahrir-Platz und Esel im Gadhafi-Trikot.
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Fans des ägyptischen Clubs Al-Ahly im Kairoer Derby gegen Zamalek
ZEIT ONLINE: Herr Dorsey, am Wochenende wird in Tunesien zum ersten Mal nach den Revolutionen in Nordafrika gewählt. Welche Rolle spielt der Fußball bei diesen Wahlen?
James M. Dorsey: Im Mittleren Osten und in Nordafrika ist Fußball immer sehr politisch gewesen. Der tunesische Diktator Ben Ali hat den Fußball benutzt, genau wie Mubarak in Ägypten oder Ahmadineschad in Iran. Für sie war es wichtig, ein Teil dieses positiven Gefühls zu werden, dass den Fußball umgibt. Auch nach der Revolution sehen viele politische Parteien Fußball als eine Möglichkeit, Wahlen zu beeinflussen und haben viele Fußballer als Kandidaten angeworben.
James M. Dorsey
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James M. Dorsey ist Senior Research Fellow der S. Rajaratnam School of International Studies an der Nanyang Technological University in Singapur. Dorsey betreibt auch das Blog The Turbulent World of Middle East Soccer.
ZEIT ONLINE: Missbrauchen die neuen Parteien den Fußball genauso für ihre Zwecke wie die alten Despoten?
Dorsey: Im Grunde ja, aber es gibt einen Unterschied: Diesmal gibt es wirklich eine Wahl, einen Wettbewerb. Die Gesellschaft ist offener geworden.
ZEIT ONLINE: Warum ist Fußball so wichtig?
Dorsey: In diesen autoritären Staaten sind der Islam und Fußball die wichtigsten Dinge im Leben vieler Leute. Es gab nur zwei Orte, an denen man Frust und Wut ausdrücken konnte: Die Moschee und das Fußballstadion. Diese beiden Institutionen hätten die Diktatoren nie und nimmer schließen können. Das hätte an sich schon eine Revolution verursacht.
ZEIT ONLINE: Welche Rolle spielte der Fußball im arabischen Frühling?
Dorsey: Eine sehr wichtige. Auf dem Tahrir-Platz in Kairo haben sich drei Gruppen versammelt. Die normalen Leute, die keine Erfahrung mit Demonstrationen hatten und die ihre Hemmschwelle schon mit der Versammlung selbst überwunden hatten. Dann gab es die Jugendgruppen der Muslim-Brüder, die schon etwas Erfahrung um Straßenkampf hatten. Und es gab die Ultras, die radikalen, oft auch gewalttätigen Anhänger der beiden Kairoer Fußballclubs. Diese Fans waren die Stoßtruppen in der Konfrontation mit den Sicherheitskräften und den Anhängern von Mubarak. Sie haben den anderen Gruppen Mut gemacht.
ZEIT ONLINE: Die Ultras sind vorneweggegangen, weil sie Erfahrungen mit Gewalt hatten.
Dorsey: Genau. Die Ultras waren vorher durch ihre Radikalität praktisch jede Woche im Konflikt mit dem Staat. Die Regierung fürchtete sich vor dieser Gruppe sehr. Am Vorabend der Revolution riefen die Sicherheitskräfte die Ultras an und baten sie zu Hause zu bleiben und nicht zum Tahrir-Platz zu kommen. Weil sie wussten, was das bedeuten würde.
ZEIT ONLINE: Wie haben sich die Ultras nach der Revolution verhalten?
Dorsey: Sie spielen weiter eine wichtige Rolle. Sie waren es, die die Büros des Staatssicherheitsdienstes überfallen haben. Sie haben die ersten propalästinensischen Demonstrationen mitorgansiert. Und sie haben die israelische Botschaft gestürmt.
ZEIT ONLINE: Wie ist das Verhältnis der Fußballfans zur Militärregierung?
Dorsey: Das Verhältnis ist sehr schlecht. Die Ultras haben das Gefühl, dass das Militär nicht die Forderungen derjenigen umsetzt, die zu Beginn des Jahres demonstriert haben. Wie die meisten Ägypter wollten die Ultras dem Militär vertrauen, das ist aber Vergangenheit. Jetzt fordern sie, dass die Militärregierung abtritt. Sie realisieren, dass sie zwar den Präsidenten vertrieben, aber nicht das System umgestoßen haben
ZEIT ONLINE: Gibt es weitere Länder, in denen der Fußball bei Demokratiebemühungen oder eben -verhinderungen eine Rolle spielt?
Dorsey: Schauen Sie zum Beispiel nach Jemen. Der Präsident wird bei einem Angriff schwer verwundet und erholt sich drei Monate in Saudi-Arabien. Was tut er in den ersten 36 Stunden nach seiner Rückkehr in den Jemen? Obwohl das Land im Chaos liegt, trifft er sich mit dem Jugendnationalteam, um sein Image zu verbessern. Auf der anderen Seite wird in Algerien beispielsweise nicht mehr auf der Straße protestiert, dafür aber fast wöchentlich in den Fußballstadien.
ZEIT ONLINE: Wie sieht es in Libyen aus?
Dorsey: Libyen ist wahrscheinlich das extremste Beispiel dafür, wie der Fußball durch ein System manipuliert wurde. Al-Saadi al-Gadhafi, ein Sohn des Diktators, war Vorsitzender des libyschen Fußballverbandes, war Eigentümer des wichtigsten Clubs, Al-Ahly in Tripolis, und zugleich dessen Kapitän. Al-Ahly Tripoli war lange der Rivale von Al Ahly Benghazi, dem Club aus dem Osten des Landes. Tripolis gewann immer, weil Saadi die Schiedsrichter manipuliert hatte. Die Fans aus Bengasi waren darüber so wütend, dass sie bei einer Gelegenheit einen Esel, dem sie Saadis Trikot übergezogen hatten unter lauten Eselsrufen aufs Feld geschickt hatten. Daraufhin schickte Saadi seine Sicherheitstruppen nach Bengasi. Der Komplex des Clubs wurde völlig niedergebrannt, 80 Leute wurden verhaftet und drei zum Tode verurteilt. Später wurden die Todesurteile in lebenslängliche Gefängnisstrafen umgewandelt.
ZEIT ONLINE: Saadi war kein guter Fußballer.
Dorsey: Saadi ist dafür aber der erste Fußballer, der von Interpol gesucht wird. Es wird jetzt untersucht, inwieweit Saadi etwas mit dem Mord an einem bekannten, kritischen libyschen Fußballer im Jahr 2005 zu tun hatte.
ZEIT ONLINE: Ist auch bekannt, dass radikale Islamisten den Fußball für ihre Zwecke nutzten?
Dorsey: In Ägypten war bis vor zwei Monaten Hassan Shehata Nationaltrainer. Er war sehr respektiert und hat Ägypten zu drei Afrikameisterschaften geführt. Sein Leitspruch war der Islam. Wer nicht religiös war, durfte nicht mitspielen. Auch für einige radikale Islamisten hatte Fußball eine große Bedeutung. Osama bin Laden oder der Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah waren oder sind sehr große Fußballfans. Sie haben verstanden, dass man mit Fußball viele Menschen anlocken und ein Zusammenhörigkeitsgefühl erzeugen kann. Während des Kampfes mit dem Mudschaheddin gegen die Sowjets in Afghanistan hat bin Laden eine Mini-WM unter seinen Soldaten ausgetragen, weil die aus aller Herren Länder kamen.
ZEIT ONLINE: Andererseits war Fußball aber auch in einigen Ländern verboten.
Dorsey: Das ist ja das ironische an der Sache. Die Taliban haben versucht, Fußball zu verbieten. In Somalia haben es die al-Shabaab verboten. Dort konnte man zum Tode verurteilt werden, wenn man sich nur ein WM-Spiel im Fernsehen angeschaut hatte. 2005 gab es eine Fatwa von einem radikalen saudi-arabischen Imam, die den Fußball als Spiel der Ungläubigen bezeichnet. Er wollte die Regeln umschreiben lassen. Wenn man so will, waren Leute wie Osama bin Laden unter den Dschihadisten Mainstream, weil sie Fußball unterstützten.
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